Die Lagergemeinschaft


Inhalt

Die Geschichte der Österreichischen Lagergemeinschaft Ravensbrück und FreundInnen
Gründung und Zielsetzung
Die Aktivistinnen der ÖLGR
Aktivitäten der ÖLGR
Zeuginnenschaft bei den „Ravensbrück-Prozessen“
Mitteilungsblatt
Wanderausstellung „Den Toten zum Gedenken, den Lebenden zur Mahnung“ mit Broschüre „Was geht das mich an?“
Ravensbrückarchiv im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands (DÖW)
Übergabe an die nächste Generation


Die Geschichte der Österreichischen Lagergemeinschaft Ravensbrück und FreundInnen

Gründung und Zielsetzung

Gründungsfeier der Österreichischen Lagergemeinschaft Ravensbrück im Alten Wiener Rathaus 1947, im Hintergrund die Portraits von Mali Brust, Käthe Leichter und Franziska Kantor (Quelle: VGA)


Vorder- und Rückseite der Delegiertenkarte von Irma zum ersten österreichischen Bundestreffen der Politischen Häftlinge von Ravensbrück am 24. Mai 1947


Innenseiten der Delegiertenkarte von Irma zum ersten österreichischen Bundestreffen der Politischen Häftlinge von Ravensbrück am 24. Mai 1947


Abschrift der Rede bei der Gründungsfeier der Österreichischen Lagergemeinschaft Ravensbrück, Wien 24.5.1947



Titelseite der Broschüre „Frauen-KZ Ravensbrück“, 1945

Am 24. Mai 1947 fand im Festsaal des Alten Rathauses in Wien die offizielle Gründungsfeier der Österreichischen Lagergemeinschaft Ravensbrück (ÖLGR) statt. [1] Seit nunmehr 65 Jahren treffen sich die Wiener Mitglieder einmal im Monat. Die Treffen in den anderen Bundesländern, wie etwa in Klagenfurt, Graz oder Leoben, mussten die dortigen Frauen, alters- und krankheitsbedingt, sukzessive einstellen.
Nach ihrer Befreiung aus dem KZ mussten die „Ravensbrückerinnen“ feststellen, dass die österreichische Gesellschaft wenig über die Gräueltaten der Nationalsozialisten wissen wollte.
„Wir haben nämlich so gedacht – was natürlich naiv war: Jetzt ist der Hitler besiegt, jetzt ist der Faschismus tot, verstehst du. Das war so naiv zu denken, dass das mit einem Schlag, wenn das sogenannte Großdeutsche Reich zerschlagen war, dass es mit einem Schlag keine Nazis gibt.“ [2]
Mit ihrem Zusammenschluss in der Lagergemeinschaft wollten die Frauen mithelfen, ein demokratisches Österreich aufzubauen. Dazu gehörte auch, die österreichische Bevölkerung über die Folgen der nationalsozialistischen Diktatur zu informieren und die Widerstandstätigkeit von Frauen zu würdigen.
Die Lagergemeinschaft war ein Ort, an dem sich die Frauen über das Erlebte austauschen konnten. Hier stießen sie nicht auf Unverständnis und taube Ohren. Irma Trksak meinte dazu in einem Interview, dass man sie heute wohl als „Selbsthilfegruppe“ bezeichnen würde. In einer Rede bei der Gründungsfeier sind die sehr hochgesteckten und sehr kämpferisch formulierten Ziele nochmals zusammengefasst.

Die Aktivistinnen der ÖLGR
Die Überlebenden des KZ Ravensbrück beschlossen bereits im Lager, über die Verbrechen der Nationalsozialisten zu berichten. Wenige Wochen nach der Rückkehr nach Österreich verfassten elf Frauen eine Broschüre über ihre Erfahrungen im Frauenkonzentrationslager. [3] Die Lagergemeinschaft verstand sich von Anfang an als eine politische Vereinigung, die prinzipiell offen war für alle ehemals Verfolgten, sofern diese sich im Lager nichts zuschulden kommen hatten lassen. De facto waren fast ausschließlich ehemalige Widerstandskämpferinnen in der Lagergemeinschaft organisiert. Die Frauen standen unterschiedlichen politischen Parteien nahe, was manchmal auch zu Spannungen und Konflikten innerhalb der ÖLGR führte. Dennoch ist der Verein bis heute aktiv. Irma Trksak, selbst Gründungsmitglied und langjährige Sekretärin der ÖLGR, erklärt dies so:
„Die Linie war Überparteilichkeit, Solidarität und Hilfe (…) und das Andenken an die Opfer hochzuhalten. Das waren ja unsere Ziele (…) und ich glaube, deswegen sind wir auch solange zusammengeblieben.“ [4]
Das Engagement in der ÖLGR war nicht nur vom Verfolgungsgrund, der politischen Einstellung und von der Überzeugung abhängig, über die nationalsozialistische Diktatur und Verbrechen aufklären zu müssen. Durch Berufstätigkeit und Betreuungspflichten konnten sich manche nicht in dem von ihnen selbst gewünschten Ausmaß engagieren.
„Aber nachdem ich berufstätig war und ein Kind hatte, konnte ich natürlich nicht so aktiv überall mitmachen wie ich wollte, bei den Ausstellungen und so weiter, weil ich ja einen Beruf hatte und einen Sohn und ich musste verdienen, ich konnte mir nicht immer frei machen.“ [5]
„Dann ist mein Mann gestorben, wie die Ruth vier Monate alt war, und da war ich allein. Ich hätte die Kinder ja nirgends hingeben können, weil sie ja keine Großeltern gehabt haben, weder väterlicherseits noch mütterlicherseits.“ [6]

Aktivitäten der ÖLGR
Die ÖLGR kann auf 65 äußerst aktive Jahre zurückblicken, in denen sie wichtige Vorhaben umsetzte:

Zeuginnenschaft bei den „Ravensbrück-Prozessen“
Die so genannten Ravensbrück-Prozesse unter britischer und französischer Gerichtsbarkeit fanden zwischen Dezember 1946 und Juli 1948 statt. Angeklagt waren Angehörige des Lagerpersonals, wie Ärzte, Lagerführer, Aufseherinnen und Aufseher, aber auch einige Häftlinge, die andere misshandelt hatten.
Einige österreichische Überlebende nahmen die psychisch sehr belastende Zeuginnenschaft auf sich. Lotte Brainin, die als Entlastungszeugin für die Häftlingskrankenschwester Vera Salvequart vorgeladen wurde, verdeutlicht diese Anstrengung:

Cover des Ausstellungskataloges. Österreichische Lagergemeinschaft Ravensbrück, Was geht mich das an? Ausstellungskatalog, Wien 1963

„Also ich bin nicht so, wie die anderen, geflogen. Ich musste ganz allein [fahren]. Ich habe so gezittert, den ganzen Weg, mit der Bahn hinfahren, rund um mich herum nichts als Deutsche, abgetakelte Soldaten. Und da habe ich mich schon gefürchtet. Dann bin ich nicht in ein Hotelzimmer gekommen, sondern in eine riesige Baracke. Ich habe mich schon wieder gefühlt wie im Lager. Wo die Kriegsgefangenen waren! […] Dann werde ich geholt von der englischen Militärpolizei. Und habe mir gedacht: nein, noch einmal gehe ich doch nicht als Zeugin! Ich setze mich zu dem ins Auto, er stellt sich vor, ich stelle mich auch vor und ich sage: ‚Sie, ich kann kein Wort Englisch’. Ich habe ja so gezittert. Habe ich gesagt: ‚Sie, ich sage Ihnen gleich, ich bin keine Entlastungszeugin. Was soll ich machen? Ich bin geladen worden als Entlastungszeugin!’[…] Also, egal wie, letzten Endes musste ich dort hinein in diesen Gerichtssaal, ich komme in den Kobel, wo die Zeugenaussagen sind, und sofort stellt ihr Verteidiger an mich eine Frage: ‚Kennen Sie die Frau Sowieso?’ ‚Ja.’ Gut. Die zweite Frage. […] ‚Die Frau Vera Salvequart ist sehr gut mit Ihnen gewesen, war sehr lieb zu Ihnen, hat Ihnen sehr viele Sachen geschenkt. Zigaretten, Schuhe, und so weiter.’ Sage ich: ‚Ja, das stimmt, aber die Schuhe, die waren von den Ermordeten, die sie ermordet hat!’ Pfa! Alle haben zu murmeln begonnen, aber das habe ich so herausgeplatzt, weil ich wusste, sie haben es mir ja vorher gesagt, ich muss schwören und ich darf nur mit ‚Ja’ oder ‚Nein’ antworten. Aber, das habe ich gesagt, ich habe mir gedacht: werden wir sehen, was dann kommt. Die dritte Frage – der Verteidiger verzichtet. […] Ich habe mich wahnsinnig gefreut dann und für mich war das schon ein erhebendes Gefühl. Dann habe ich dem Ankläger gesagt: ‚Sie, ich gehe dort nicht mehr zurück. Führen Sie mich nicht wieder in so eine Baracke!’ Sagt er: ‚Was?! In einer Baracke waren Sie? Mit Kriegsgefangenen?’ Sage ich: ‚Ja! Und da habe ich eine Blechschüssel gekriegt und einen Blechlöffel, mit denen habe ich müssen, nur mit Soldaten in dem Saal sitzen und das Essen, ich will das nicht! Ich bin froh, dass ich lebend aus dem Lager gekommen bin. Hat er gesagt: ‚Das ist eine Schweinerei! Er wird sofort schauen, dass ich auch einen Flug kriege, so, wie die anderen.’“ [7]

Mitteilungsblatt
Die ÖLGR gibt seit 1957 jährlich ein Mitteilungsblatt heraus, in dem sie die Mitglieder des Vereins und weitere Interessierte über ihre Aktivitäten und die Vorkommnisse im vergangenen Jahr informiert. Bei besonderen Ereignissen, wie etwa einem von der ÖLGR organisierten internationalen Treffen, wurden zusätzlich „Sondernummern“ erstellt. Die Mitteilungsblätter tragen wesentlich dazu bei, den Kontakt mit allen Mitgliedern aufrecht zu erhalten. Einige dieser Mitteilungsblätter können hier online angesehen und heruntergeladen werden. Die vollständige Sammlung gibt es in der Österreichischen Nationalbibliothek und am DÖW.

Wanderausstellung „Den Toten zum Gedenken, den Lebenden zur Mahnung“ mit Broschüre „Was geht das mich an?“
Ein zentraler Beweggrund für die Gestaltung einer Wanderausstellung ist im Mitteilungsblatt 1960 nachzulesen:
„Im Herbst vorigen Jahres kam es in verschiedenen Ländern, darunter auch in Österreich, zu Ausschreitungen der Neonazi. Wieder wurden Wände beschmiert und Hakenkreuze gestreut. Verschiedene Organisationen, wie der ‘Bund Heimattreuer Jugend’, die Landsmannschaften und Kameradschaftsverbände entfalteten eine Tätigkeit, die uns stark an die Zeit vor 1938 erinnert; auch damals hatte man so begonnen. (…) Darum beschlossen wir in der Generalversammlung unserer Lagergemeinschaft, für die Österreichische Jugend eine Ausstellung zu erschaffen, in welcher wir den verhängnisvollen Weg zeigen, der vom Hakenkreuzschmieren der Vergangenheit zum Verlust der Souveränität Österreichs, zu den Gaskammern der KZ und zum zweiten Weltkrieg mit seinen Grauen und Schrecken führte.“ [8]
Nach arbeitsintensiven Monaten konnte schließlich am 6. September 1960 die Ausstellung „Den Toten zum Gedenken, den Lebenden zur Mahnung“ im Gebäude des Wiener Stadtschulrates durch die Ravensbrück-Überlebende Dr. Lotte Dorowin-Zeissl eröffnet werden. [9] Dies war der Auftakt für eine mehr als dreijährige Wanderung der Ausstellung durch fast alle österreichischen Bundesländer.
Die „Ravensbrückerinnen“ führten selbst durch die Ausstellung und konnten auf diese Weise auf die Fragen der Jugendlichen eingehen, die sich während eines Besuches ergaben. Dies war auch der Beginn der Tätigkeit der „Ravensbrückerinnen“ als Zeitzeuginnen in den Schulen, viele setzten diese Aktivität Zeit ihres Lebens fort.
Nach Berechnungen der ÖLGR sahen insgesamt 133.554 Personen die Ausstellung, darunter mehrheitlich Jugendliche, wie die Frauen zufrieden anmerkten. 1988 ließ Antonia Bruha die damals schon mehr als zwanzig Jahre zurückliegenden Erfahrungen mit der Ausstellung Revue passieren und meinte, dass die Vorbereitung zum Thema durch die Lehrkräfte nur selten erfolgte und es den ZeitzeugInnen zukam, diese Rolle zu übernehmen. Die Erfahrungen mit den SchülerInnen und LehrerInnen beschrieb Antonia Bruha folgendermaßen:
„Wir fanden echtes Verständnis, hilfreiche Unterstützung, aber auch passive Einstellung und feindselige Ablehnung. Es zeigte sich, und das immerhin 15 Jahre nach Kriegsende, dass zum Teil vollkommen falsche Vorstellungen vom Wesen des NS-Regimes und empfindliche Wissenslücken im Bereich der Zeitgeschichte (existierten).“ [10]

Ravensbrückarchiv im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands (DÖW)

Präambel der Österreichischen Lagergemeinschaft Ravensbrück und Freudinnen, Seite 1, Wien 15.3.2005.


Präambel der Österreichischen Lagergemeinschaft Ravensbrück und Freudinnen, Seite 2, Wien 15.3.2005.


Abschrift der Päambel der Österreichischen Lagergemeinschaft Ravensbrück und Freundinnen, Wien 15.3.2005


Im DÖW arbeiteten seit seiner Gründung 1963 Frauen der ÖLGR mit. Sie beteiligten sich somit am Aufbau eines Archivs, das sich inhaltlich den Themen Widerstand und Verfolgung, Exil, NS-Verbrechen (insbesondere Holocaust) und dem Rechtsextremismus nach 1945 widmete. Im Bestand des DÖW befindet sich auch die Spezialsammlung über Österreicherinnen im KZ Ravensbrück, die maßgeblich von Antonia Bruha angelegt und bis kurz vor ihrem Tod von ihr betreut wurde. Grundlage dieses Sonderbestandes sind die Kopien der Akten des Prozesses gegen die SS-Bewacher, Ärzte, Krankenschwestern und Aufseherinnen vor dem Englischen Militärgericht in Hamburg (1946 – 1947) (siehe oben). Dieser Bestand wurde durch die Übergabe von Dokumenten (z.B. Briefe, Ausweise, eidesstattliche Erklärungen), Erinnerungsberichte von Seiten der Überlebenden, durch Ergebnisse regionaler Recherchen (z.B. Liste von Kärntnerinnen, die in Ravensbrück umgekommen sind) laufend ergänzt. Insgesamt umfasst der Sonderbestand 823 Akten und über 100 Fotos.

Übergabe an die nächste Generation
„Ich bin dankbar, dass die jungen Menschen – trotzdem, dass ich Euch langsam nicht mehr auseinander kenne, weil ihr so viele seid –, ich bin dankbar, dass junge Menschen das weiterführen wollen. Aber die können das nur weiterführen, wenn sie von allen unterstützt werden, nicht, wenn dann welche kommen und schimpfen, und das gibt es.“ [11]
Seit 1995 nehmen, auf Einladung der Überlebenden, Frauen der nachfolgenden Generation an den Treffen der ÖLGR teil, mit dem Ziel, die „Ravensbrückerinnen“ bei der Umsetzung der Lagergemein-schaftsaktivitäten zu unterstützen. 2005 erfolgte nach einem intensiven Diskussionsprozess die Übergabe der Vereinsfunktionen und -agenden an die Generation der Nachgeborenen, was sich in der Erweiterung des Vereinsnamens auf Österreichische Lagergemeinschaft Ravensbrück & FreundInnen (ÖLGRF) ausdrückt – eine nicht von allen begrüßte Entwicklung, wie das obige Zitat zeigt.
Die von Lotte Brainin verfasste Präambel für die neuen Vereinsstatuten gilt als Vermächtnis der Überlebenden an die folgenden Generationen. Dezidiert werden die nachfolgenden Generationen darin aufgerufen, das von den Überlebenden über Jahrzehnte gezeigte antifaschistische Engagement fortzusetzen.


[1] Ausführlich zur Geschichte der Lagergemeinschaft vgl. Helga Amesberger, Kerstin Lercher, Lebendiges Gedächtnis. Die Geschichte der österreichischen Lagergemeinschaft Ravensbrück (Wien 2008).
[2] Irma Trksak, IKF-Interview von Brigitte Halbmayr (1999).
[3] Frauen-KZ Ravensbrück (Stern-Verlag: Wien 1945), verfasst von: Antonia Bruha, Maria Berner, Hermine Löwenstein (Kuhn), Anna Poskocil, Anna Schefzik, Hermine Jursa, Irma Trksak, Lisa Kammerstätter (Zisa Diasek), Rosa Vostarek, Marie Strnad und Anna Hand.
[4] Irma Trksak, IKF-Interview von Brigitte Halbmayr (1999).
[5] Irma Trksak, IKF-Interview von Brigitte Halbmayr (1999).
[6] Regine Chum, IKF-Interview von Helga Amesberger (1998).
[7] Lotte Brainin, IKF-Interview von Helga Amesberger (1998).
[8] Mitteilungsblatt der ÖLGR (Dezember 1960) S. 2.
[9] Vgl. Mitteilungsblatt der ÖLGR (Dezember 1960) S. 3.
[10] Mitteilungsblatt der ÖLGR (1988) S. 10.
[11] Antonia Bruha, IKF-Interview von Helga Amesberger (1998).

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