Antonia H.

Antonia H.
Geboren am 11. Juni 1897
Umgekommen während Verfolgung
Verfolgungsgrund: „Lohnabtreibung“, jüdische Abstammung
Biografische Daten



Familienfoto






Antonia H., 1940 (Quelle: Fr. Truttenberger)

Musterschülerin
Antonia H. kam in Tyczyn, Kreis Rzeszów, Kronland Galizien (heute Republik Polen, Woiwodschaft Karpatenvorland) als Tochter von Oktavian und Johanna H. zur Welt. Ihre Eltern betrieben einen kleinen Kaufmannsladen, in dem Antonia H. praktisch aufwuchs und schon in jungen Jahren aus- bzw. mithalf.

Nicht etwa als Flüchtling während des Ersten Weltkriegs, sondern bereits 1913, um dort die Handelsschule zu besuchen, ging Antonia nach Wien. Die Metropole Wien übte um die Jahrhundertwende bis in den letzten Winkel der Monarchie große Anziehungskraft aus. Dies, aber auch ihre guten schulischen Leistungen und der berufliche Hintergrund der Eltern bewogen Antonia vermutlich, in Wien die Ausbildung zu absolvieren. Im Sommer 1914 sollte sich ihre Heimat in einen Kriegsschauplatz verwandeln. Russische Truppen stießen tief ins Gebiet der Monarchie vor. Bis 1918 verlor sie Vater und Mutter, und auch ihr einziger Bruder fiel. Zunächst in Folge der Kriegsereignisse, endlich wegen veränderter politischer Umstände und gewaltsam neu gezogener Grenzen zwischen neu entstandenen Staaten, war ihr neben den familiären Wurzeln in Galizien auch die Möglichkeit einer Rückkehr dorthin abgeschnitten.

Flucht
War sie aus freien Stücken und in der Hoffnung, es sich in der Hauptstadt zu verbessern, vor Kriegsausbruch nach Wien gekommen, teilte sie jetzt ein Schicksal mit Tausenden jüdischen Flüchtlingen aus Galizien, die sich dort seit 1914 Verdächtigungen, Misstrauen und (teilweise pogromartigen) Übergriffen ausgesetzt gesehen hatten. Konnte sie während des Krieges in Wien bei Böhm & Komp. bzw. Schlesinger & Neuser im kaufmännischen Beruf ihren Lebensunterhalt bestreiten, stand ihr diese Möglichkeit nach Kriegsende, das heißt: mit der Rückkehr männlicher Angestellter, nicht länger offen. So verließ sie bald das immer noch von Flüchtlingen überlaufene, zur Hauptstadt eines Reststaates degradierte Wien in Richtung des oberösterreichischen Braunkohlereviers im Hausruck. Dort heiratete sie 1921 den Arbeiter Johann H. Rasch kamen drei Kinder zur Welt: zwei Jungen und ein im Säuglingsalter verstorbenes Mädchen. 1933 wurde ihr Mann Opfer eines Arbeitsunfalls und erlag nach Tagen seinen Verletzungen. Mit einer Witwenrente, die nicht einmal einem Sechstel eines Facharbeiterlohnes entsprach, hatte sie sich und ihre beiden Söhne durchzubringen. Sobald und soweit dies neben der Kinderbetreuung möglich war, arbeitete sie als Köchin, Haushälterin und in einer Ziegelei.

Verhaftung
Aus Anlass ihrer Heirat war Antonia H. – vor beinah 20 Jahren – zum katholischen Glauben konvertiert, was im April 1938 nicht zählte: Vor der Gemeindeverwaltung bzw. beim NS-Bürgermeister ihres Wohnorts und beim zuständigen Gendarmerieposten galt sie nun als „Jüdin“ bzw. „Halbjüdin“. Ihr ungeklärter „rassischer“ Status und ihre beiden aus der Ehe mit einem „Arier“ stammenden Kinder mochten dazu beigetragen haben, dass sie bis in den Herbst 1941 unbehelligt blieb. (Sieht man ab vom Verlust einer Anstellung als Haushälterin in Oberösterreich, weil sie sich ihrem – allen Juden und Polen den Tod wünschenden – Dienstgeber gegenüber ostentativ als „Polin und Halbjüdin“ bekannt hatte.) Ende November 1941 wurde sie jedoch aufgrund einer „vertraulichen Anzeige“ unter dem Verdacht der „Lohnabtreiberei“ festgenommen. Es ist nicht geklärt, ob sie denunziert wurde oder man eine Handhabe gegen die „rassisch“ nicht eindeutig qualifizierbare Alleinerzieherin suchte. Auf jeden Fall erinnerte sich die Behörde an acht und mehr Jahre zurückliegender Vorstrafen. Zum Zeitpunkt ihrer Festnahme schienen 3 Vorstrafen wegen Beihilfe zur Abtreibung (§§ 5, 144 StG) auf. Das letzte Urteil datierte aus dem Jahr 1935. Das Verfahren gegen Antonia H. vor dem Landesgericht Wels im Jänner 1942 war auch insofern „korrekt“, als nach Beweiswürdigung allein eine Verurteilung wegen Betrugs möglich blieb. Das Gericht kam zum Schluss: Antonia H., die an der Grenze zur völligen Verarmung dahinleben musste, habe Eingriffe nur vorgetäuscht – etwa um sich ein ‘Stück Speck’ zu erschleichen.

Jüdische Herkunft
Im Oktober 1941 waren die Deportationen bereits angelaufen. Für Juden und Jüdinnen galt daher ein Auswanderungsverbot. Wenige Wochen später wurde auf der Wannseekonferenz die Vernichtung der Juden und Jüdinnen beschlossen. Im Jänner 1942 wurde Antonia H. am Landesgericht Wels zu einer neunmonatigen Haftstrafe verurteilt. Der ermittelnde Polizist F. ließ seine antisemitischen Vorurteile in seinen Bericht einfließen. Der Prozess selbst verlief zumindest oberflächlich korrekt. Frau H. verbüßte ihre Haftstrafe in Wels. Tatsächlich verzögerte die Justiz das ihr von Kriminalpolizei und Gestapo längst zugedachte Schicksal. Denn schon Wochen vor der Hauptverhandlung (im Dezember 1941) hatte die Staatspolizeistelle Linz für die Zeit nach einer allenfalls zu verbüßenden Haftstrafe „Schutzhaft“ angeordnet. „Entlassen“ wurde Antonia H. daher im Sommer 1942 aus der Straf- in die Schutzhaft. Bis zum 6. September 1942 war sie daraufhin im polizeilichen Anhaltezentrum Linz inhaftiert. Von dort überstellte man sie in das Konzentrationslager Ravensbrück, wo sie am 11. September eintraf und die Häftlingsnummer 13931 erhielt.

Ihr „rassischer Status“ erfuhr weiterhin widersprüchliche Festsetzungen. Hatte Antonia H. sich selbst im Sinne der Nürnberger Gesetze für eine „Halbjüdin“ (sog. Mischling ersten Grades) gehalten, wurde sie in der Haftanstalt Wels, laut Abgangsschein, als „arischer“ Häftling geführt. In Ravensbrück wiederum galt sie als Halbjüdin, wie auf der Zugangsliste ersichtlich. Allerdings lag seit Juli 1942 ein „Abstammungsbescheid“ des Reichssippenamtes vor, der Antonia „Sara“ H. als „Jüdin“ (mit zwei jüdischen Elternteilen) bestimmte.

KZ Ravensbrück
Über die Haftdauer in Ravensbrück und ihr weiteres Schicksal ist nichts bekannt. Möglicherweise war sie unter den 552 jüdischen Frauen, die im Oktober desselben Jahres nach Auschwitz deportiert und von denen 330 noch bei Ankunft „selektiert“ und „sonderbehandelt“ wurden, dies bleibt aber Spekulation. Die Auskunft eines Neffen ihres verunglückten Mannes zum Verbleib von Antonia H. lautet: „Nein, sie ist nicht zurückgekommen – weil sie im KZ verschwunden ist.“ Laut derselben Quelle kam ihr ältester Sohn, der sie wenigstens bis zu ihrer Festnahme finanziell unterstützt hatte, zur Jahreswende 1944/45 bei einem Bombenangriff auf die Hermann Göring-Werke in Linz ums Leben, während ihr jüngster Sohn überlebte und 1951 die Meisterprüfung für das Konditorhandwerk ablegte.

© Martin Demelmair

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