Wien


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WienerInnen im KZ Ravensbrück
Der kommunistische Widerstand
Die „Praterjuden“

WienerInnen im KZ Ravensbrück
Rote Fahne (Quelle: DÖW)


Antonia Bruha mit einem Freund aus dem „Tschechischen Arbeiterturnverein“
(Quelle: Privatarchiv Antonia Bruha)


Die größte Gruppe unter den österreichischen Ravensbrück-Häftlingen stellen Frauen und Männer aus dem Bundesland Wien dar. [1] Von den 1.576 Personen, zu denen der Geburtsort recherchiert werden konnte, kam mehr als ein Viertel (27 Prozent) aus Wien, bei den Männern war es gar ein Drittel; in Zahlen: 373 Frauen und 52 Männer.

Eine weitere Besonderheit Wiens ist, dass der Anteil der politisch und der als Jüdinnen/Juden Verfolgten nahezu gleich groß ist, er liegt bei 43 bzw. 44 Prozent. Bezogen auf Österreich bedeutet dies, dass fast alle Jüdinnen/Juden, nämlich 94 Prozent, zum Zeitpunkt ihrer Verfolgung in Wien lebten; ein Teil von ihnen wurde hierher aus anderen Regionen Österreichs zwangsübersiedelt. Auch unter den politisch verfolgten ÖsterreicherInnen waren die WienerInnen die stärkste Gruppe (42 Prozent).

Durch den hohen Anteil an Jüdinnen/Juden unter den Wiener Ravensbrück-Inhaftierten ist die Todesrate bei den WienerInnen sehr hoch. Fast die Hälfte der WienerInnen (46 Prozent) ist während der Verfolgung umgekommen. Unterscheidet man jedoch die WienerInnen noch nach Verfolgungsgrund, zeigt sich, dass 70 Prozent der Ermordeten Jüdinnen/Juden und rund 20 Prozent „Politische“ waren.
Der politische Widerstand in Wien (und in Österreich) wurde vorwiegend von KommunistInnen getragen.
Eine besondere Gruppe unter den jüdischen Verfolgten waren die sogenannten „Praterjuden“.

Der kommunistische Widerstand
Den österreichischen Widerstand prägte die tiefe parteipolitische wie gesellschaftspolitische Kluft zwischen den sozialdemokratischen bzw. kommunistischen Gruppierungen und dem katholisch-konservativ-bürgerlichen Lager. Erst 1945 gab es Versuche, parteiübergreifende Widerstandsgruppen zu organisieren. Die nach dem Anschluss von den Revolutionären Sozialisten (RS) ausgegebene Devise des dreimonatigen Stillhaltens gegenüber den Nationalsozialisten hatte deren weitgehende Zerschlagung zur Folge. Anders die KommunistInnen. Polizei- und Gerichtsakten belegen, dass die KommunistInnen zu den zahlenmäßig stärksten Widerstandsgruppen in Österreich zählten. [2] Die Widerstandsaktivitäten der KommunistInnen waren vielfältig: Verteilen von anti-nazistischen Druckschriften, Schmieraktionen, Versuche der „Wehrkraftzersetzung“ mittels Briefen an die Frontsoldaten, kleinere Sprengstoffanschläge etc. Unter den kommunistischen AktivistInnen befanden sich viele Jüdinnen und Juden sowie Personen, die der tschechischen Minderheit in Wien angehörten. So auch die beiden Wienerinnen Regine Chum und Antonia Bruha. Regine Chum schloss sich der Widerstandsgruppe um Walter Kempf an, die sich aus den erwachsenen Kindern (alle sogenannte jüdische Mischlinge) bereits verhafteter kommunistischer Widerstandskämpfer zusammensetzte. Im Interview erzählte sie von einer typischen Widerstandsaktion:
„Damals hat es in Hülle und Fülle des schöne Buch ‘Mein Kampf‘ gegeben. Das haben alle, die geheiratet haben, bekommen. Diese Bücher haben wir von jenen gekriegt, die nicht heiß darauf waren. … Wir haben sie den Verwundeten in den Lazaretten gebracht, aber mit eingelegten [antinazistischen] Flugblättern.“ [3]

Antonia Bruha , die der tschechischen Minderheit in Wien angehörte, war schon in der Zeit des Austrofaschismus im Widerstand aktiv. Sie setzte die Widerstandstätigkeit auch nach der Machtergreifung Hitlers fort und zwar im Fürsorgeverein „Tschechisches Herz“ (Česke Srdce). Sie verteilte Flugblätter und beteiligte sich an Sabotageakten, wie etwa Wehrmachtseinrichtungen in der Lobau in Brand zu setzen.
„Ich bin zu der Houdek-Gruppe dann gewechselt, weil ich von diesem Šipany und von dem Nakovitz, das war ein Schutzbündler, die haben in der Staatsfabrik gearbeitet, von denen habe ich immer für die Sabotagen, die wir gemacht haben, das Material geholt und habe das in den 20. Bezirk zu dem Houdek geführt mit dem Radl.“
Österreichische Jüdinnen, die zwischen 1939 und 1941 nach Ravensbrück deportiert wurden, waren primär aufgrund ihrer politischen Tätigkeit Verfolgte. Die unmittelbar nach dem „Anschluss“ geflohenen Jüdinnen und Juden spielten im europäischen Exil eine bedeutende Rolle im Widerstand, insbesondere in Frankreich und Belgien. Aufgrund ihrer Tätigkeit in der „travail anti-allemand“ (Wehrmachtssoldaten sollten zur Desertion überredet werden) wurden zahlreiche Wiener Jüdinnen inhaftiert und später nach Auschwitz-Birkenau deportiert, von wo sie schließlich nach Ravensbrück kamen. So auch Lotte Brainin, die nach ihrer Flucht aus Österreich in Brüssel die gefährliche Arbeit übernahm, deutsche und österreichische Wehrmachtssoldaten zu Widerstandshandlungen zu bewegen.
„Und nebenbei hab ich immer meine Treffs gehabt mit deutschen Soldaten, die ich versuchen musste zu überreden, dass sie einerseits eine Soldatenzeitung nehmen, die sie von mir bekommen haben, die meine Organisation erzeugt hat, … Oder eventuell desertieren oder uns eventuell Waffen geben. Im allgemeinen war es so, dass man auch versucht hat, den einen oder andern für die Gruppe zu werben.“ [4]
Mit Ende 1943 waren die kommunistischen Widerstandsgruppen weitgehend zerschlagen. Spitzelwesen und Denunziantentum trugen maßgeblich dazu bei.

Die „Praterjuden“ [5]

Befundbogen Nr. 260 p1 USM NMS-Fettner: Befundbogen von Isak Fettner, Seite 1 (Quelle: Naturhistorisches Museum Wien).


Befundbogen Nr. 260 p2 USM NMS-Fettner: Befundbogen von Isak Fettner, Seite 2 (Quelle: Naturhistorisches Museum Wien)

„Wir (…) verfügen über ein schönes Material über polnische Juden, die vor vierzehn Tagen bei uns gemessen und aufgenommen wurden.“ [6]
Das „Material“, auf das sich Dr. Josef Wastl, Leiter der Anthropologischen Abteilung des Wiener Naturhistorischen Museums, in diesem Brief bezog, umfasste mehr als 100 Haarproben, 700 dreiteilige Fotos, 19 Gipsmasken sowie 440 Vermessungsblätter. Es stammte von jenen rund 1.000 staatenlosen (polnischen) Juden, die zwischen 9. und 11. September 1939 von der Gestapo verhaftet wurden. Die zwischen 16 und 83 Jahre alten Juden wurden zunächst in verschiedene Wiener Gefängnisse und anschließend in das Wiener Stadion (heute Praterstadion) gebracht. Der Großteil dieser Männer war entweder vor, während oder unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg nach Wien gekommen. Die Jungen unter ihnen kamen bereits hier zur Welt. Die meisten verdienten sich ihr Brot durch Kleingewerbe und Kleinhandel, wie etwa Sigmund Fettner und sein Vater Abraham Moses.

Die Lebensbedingungen im Stadion waren verheerend – es gab keine Betten, sondern nur Stroh; manche mussten die ganze Zeit, also drei Wochen, im Freien schlafen. [7] Dabei war es bereits empfindlich kalt. Laut den Wetter-Aufzeichnungen betrugen die Temperaturen maximal 13,5 Grad Celsius, ab dem 24. September gar nur mehr sieben Grad.

Zwischen 25. und 30. September nahm eine achtköpfige Kommission unter der Leitung von Dr. Josef Wastl [8] bei 440 der über 1.000 Juden im Wiener Stadion anthropologische Untersuchungen vor. Diese Kommission vermaß und fotografierte auch Sigmund Fettner.

Am 30. September wurden die Männer in Polizeiautos zum Wiener Westbahnhof gebracht und ins KZ Buchenwald deportiert, wo man sie am 2. Oktober registrierte [9] . Mitte November 1939 war der Großteil der sogenannten „Praterjuden“ bereits tot. Das heißt, als Sigmund Fettner am 13./14. März 1942 gemeinsam mit 20 anderen „Vermessenen“ in das Männerlager des KZ Ravensbrück überstellt wurde, lebten viele seiner Leidensgenossen nicht mehr. Von den 440 vermessenen Männern überlebten nur 26. Die anderen starben aufgrund der katastrophalen Bedingungen in Buchenwald oder durch Ermordung in den Tötungsanstalten Bernburg/Saale und Sonnenstein bei Pirna. Sigmund Fettner wurde schließlich von Ravensbrück nach Dachau und von dort am 7. Oktober 1942 in die Tötungsanstalt Hartheim bei Linz überstellt, wo er vergast wurde. [10]
„Die 440 ‚Vermessungsobjekte‘ des Wiener Stadions waren als Vertreter einer minderwertig definierten Rasse nur noch zur Registrierung und damit zur finalen Musealisierung ihrer anthropologischen Merkmale interessant. Die Masken, die man ihnen gewaltsam aufdrückte, sollten letztlich ihre Totenmasken sein.“ [11]


[1] Die im Folgenden angeführten Zahlen beziehen sich auf die quantitative Auswertung der vom IKF durchgeführten Namentlichen Erfassung von ÖsterreicherInnen im KZ Ravensbrück. Insgesamt konnten 2.713 Frauen und Männer recherchiert werden. Nicht zu allen Personen liegen sämtliche Daten vor; die statistischen Auswertungen betreffen daher oft eine kleinere Anzahl. Vgl. im Folgenden Helga Amesberger, Brigitte Halbmayr, ÖsterreicherInnen im KZ Ravensbrück. Quantitative Auswertung der Datenbank (unveröffentlichter Forschungsbericht, Wien 2012).
[2] Vgl. Wolfgang Neugebauer, Widerstand und Opposition, In: Emmerich Tálos, Ernst Hanisch, Wolfgang Neugebauer, Reinhard Sieder (Hg.): NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch. (Wien 2000), S. 187-212; Wolfgang Neugebauer, Widerstand in Österreich – ein Überblick, In: Stefan Karner, Karl Duffek (Hg.): Widerstand in Österreich 1938-1945. Die Beiträge der Parlaments-Enquete 2005. (Graz-Wien 2007) S. 27-38.
[3] Regina Chum, IKF-Interview von Helga Amesberger (1998).
[4] Lotte Brainin, IKF-Interview von Helga Amesberger (1998).
[5] Im Folgenden beziehen wir uns, wenn nicht anders angegeben, auf die Arbeit von Claudia Spring, Vermessen, deklassiert und deportiert. Dokumentation zur anthropologischen Untersuchung an 440 Juden im Wiener Stadion im September 1939 unter der Leitung von Josef Wastl vom Naturhistorischen Museum Wien, In: Zeitgeschichte 32, Heft 2 (2005) S. 91-110.
[6] Diese Zeilen schrieb Dr. Josef Wastl, Leiter der Anthropologischen Abteilung des Naturhistorischen Museums, an Sophie Erhard von der Rassenhygienischen Forschungsstelle des Reichsgesundheitsamtes in Berlin am 13. Oktober 1939. Zitiert nach Spring, Vermessen, deklassiert und deportiert, S. 91.
[7] Vgl. Spring, Vermessen, deklassiert und deportiert. Sie zitiert in ihrem Artikel mehrere Überlebende, darunter Fritz Kleinmann, Gershon Evan und Paul Grünberg.
[8] Josef Wastl war seit Oktober 1932 Mitglied der NSDAP, trotzdem wurde er nach 1945 lediglich als „minderbelastet“ eingestuft. Vgl. Spring, Vermessen, deklassiert und deportiert, S. 101.
[9] ITS Inhaftierungsbescheinigung Nr. 742 200 vom 17.8.1958.
[10] Gedenkstätte KZ Dachau: Liste Invalidentransport vom 7.10.1942. Vgl. hierzu die Aufarbeitung der „Invalidentransporte“ von Florian Schwanninger: „Wenn du nicht arbeiten kannst, schicken wir dich zum Vergasen.“ Die „Sonderbehandlung 14f13 im Schloss Hartheim 1941-1944. In: Brigitte Kepplinger, Gerhart Marckhgott, Hartmut Reese (Hg.): Tötungsanstalt Hartheim, Reihe: Oberösterreich in der Zeit des Nationalsozialismus, Band 3 (Linz 2008) S. 155-208.
[11] Spring, Vermessen, deklassiert und deportiert, S. 104.

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